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  • AutorenbildChristine Zwygart

Juwel der Alpenstrassen

Aktualisiert: 2. Sept. 2021


Foto: Kulturförderverein Gadmen



45 Kilometer ist er lang, schlängelt sich durch ausgesprengte Tunnels und über zahlreiche Brücken: Der Sustenpass verbindet das Berner Oberland mit dem Kanton Uri, führt von Innertkirchen nach Wassen. Als Handels- und Transitachse spielte die Verbindung nie eine tragende Rolle, dafür gehört sie bis heute zu den attraktivsten Touristenrouten der Schweiz. In diesem Herbst feiert das herausragende Strassen-Denkmal sein 75-Jahr-Jubiläum.


So etwas hat die Schweiz noch nie gesehen! Auto um Auto reiht sich Stossstange an Stossstange – und das nicht im städtischen Raum, sondern mitten im alpinen Nirgendwo. Am Samstag, 7. September 1946 übergeben die Bauleiter ihre frisch erstellte Passstrasse über den Susten an die Regierungen der Kantone Bern und Uri. Selbst Bundesrat Philipp Etter und alt Bundesrat Rudolf Minger sind für die Feier eigens angereist.


Fotos: Kulturförderverein Gadmen



An diesem Tag nimmt auch das Volk «seine» neue Route mitten durch die malerische Berglandschaft in Beschlag. 15'000 Fahrzeuge drängeln sich auf der Sustenstrasse – das sind 12 Prozent aller damals zugelassenen Autos im Land. Bereits ab Sonntag darf die Strecke nur noch abwechselnd aus einer Richtung befahren werden. Zu gross wird sonst das Chaos zwischen schaulustigen Touristen, abgestellten Autos und überhitzten Motoren.


Bis heute gilt die Sustenpassstrasse als bautechnisches Juwel, weil ihre Linienführung mit dem Gelände zu verschmelzen scheint. Sie schmiegt sich an, inszeniert hier und da gar Perlen der Landschaft und hält sich streng an ein ästhetisches Konzept. So sind zum Beispiel alle aus Beton bestehenden Teile mit Bruch- oder Werksteinen verkleidet, aus Gneis und Granit vom Aushub. Die unregelmässigen Oberflächen sehe naturgegeben aus, und passen sich perfekt in die Umgebung ein. Und auch die Spitzkehren bilden ein handwerkliches Kunstdenkmal: Damit sie bei Schnee und Nässe nicht rutschig werden, sorgen Pflastersteine für die nötige Griffigkeit. Entlang der Route gibt es zahlreiche Aussichtsplattformen, Brunnen und Plätzchen zum Rasten. Die Schweiz ist 1946 von ihrer neuen «Touristenstrasse» begeistert, und der Oberhasler schreibt in seiner Sonderausgabe zur Eröffnung überschwänglich, dass der Susten «ein gemeineidgenössisches Werk darstellt, das den letzten schweizerischen Steuerzahler zum Stolzgefühl berechtigt». Der Weg bis hierhin war lang. Und beschwerlich. Und teuer.



Alpenpfad aus der Urzeiten


Imposant thronen die Wendenstöcke hoch über dem Gadmental. Fast so, als wären sie das Eintrittstor ins Berner Oberland oder in die Zentralschweiz, je nachdem von welcher Seite man schaut oder kommt. Diese raue und zugleich liebliche Berglandschaft fasziniert die Menschen seit Jahrtausenden. Kein Wunder kommt 1788 selbst Alpenforscher Jakob Samuel Wyttenbach ins Schwärmen, als er vom Meiental her auf den Susten steigt und von hier oben ins Gadmental hinunter schaut: «Vor mir liegt der unermessliche Steinengletscher. Zwar unbekannt, aber der Schönste, den ich je gesehen habe.» Wer die Lücke im zackigen Grat zwischen Heuwberg und Sustenpass einst als Erster gefunden und überschritten hat, ist unbekannt. Die spärlichen historischen Informationen dazu zeigen, dass diesem Alpenübergang kaum je Bedeutung zukam. Ein Fund von römischen Münzen im Gebiet Hopflauenen lassen jedoch darauf schliessen, dass hier schon lange ein Handelspfad durchführt: Mit Käse, Vieh und Pferden marschieren die Menschen Richtung Süden – mit Polenta, Reis, Öl, Gewürze und Wein kommen sie zurück und schleppen ihre voll beladenen «Huttli» (Rückentragkörbe) über den Susten.


Fotos: Kulturförderverein Gadmen



Die «Communicationsstrasse» von 1811


In den Jahrhunderten der konfessionellen Zwiste findet zwischen den reformierten Bernern und den katholischen Urnern kaum ein Austausch statt. Stattdessen ist der Pass immer wieder in kriegerische Wirren verstrickt, auf beiden Seiten wird fleissig aufgerüstet, eingefallen und verteidigt, gemordet und verjagt. Zu internationalem Ruhm verhilft dem Sustengebiet erst Napoléon Bonaparte um die Wende zum 19. Jahrhundert: Der Machthaber zählt das Wallis plötzlich zu seinem Reich, zum «Département du Simplon», der französischen Republik, und belegt die Warentransporte über die Grimsel mit hohen Zöllen. Also suchen die Berner, die intensiven Handel mit dem Piemont und der Lombardei betreiben, nach einem neuen Zugang zur Nord-Süd-Achse – und tun sich mit den Urnern zusammen.


Im Herbst 1810 beschliessen die beiden Kantone, den Säumerweg auszubauen. Die neue Verbindung soll dereinst mit Fuhrwerken im Sommer und mit Schlitten im Winter befahren werden können. Sie wäre, nach der Konstruktion am Simplon, erst die zweite künstlich erschaffene Alpenstrasse der Schweiz. 1811 beginnen die Bauarbeiten, Dämme werden erschaffen, Trockenmauern und enge Kurven erstellt. Über zwanzig Jahre werken die Berner und die Urner, verbauen eine Unsumme Geld – doch fertiggestellt wird die Strasse nie. Napoleons Reich fällt zusammen, die Zölle über die Grimsel fallen und die erhofften Weggelder am Susten können die Bauherren nie erheben. Ab 1870 ist die Strasse dank weiterer Ergänzungen immerhin von Meiringen her mit einem leichten Wagen bis nach Feden im Meiental befahrbar. Der letzte Abschnitt bis Wassen kommt erst fünfzig Jahre später dazu; doch zu jener Zeit stellt der motorisierte Verkehr längst andere Anforderungen.


In der Zeit dazwischen gibt’s durchaus neue Erschliessungsideen. So reichen die Ingenieure H. A. Römer und J. Isler beim Bund 1912 ein Gesuch für eine schienenlose Susten-Bahn ein: Auf einem fix montierten, wetterbeständigen Trassee hätten Autos und kleinere Lastwagen zirkulieren sollen, ebenso «Landauer mit Luxusausstattung für 6–7 Personen», wie in historischen Dokumenten zu lesen ist. Doch das extravagante Projekt findet in Bern keinen Anklang, und so landen die Pläne in der Schublade.


Foto: Kulturförderverein Gadmen



Start für die neue Passstrasse 1938


In den 1920er-Jahren können sich immer mehr Menschen ein eigenes Auto leisten. Und dieses Statussymbol führt zugleich zu einem neuen Lebensstil, der Freiheit und Unabhängigkeit verspricht. So boomt in der Schweiz der Individualtourismus, sogenanntes «Autowandern» und selbstständiges Reisen werden immer beliebter. Innerhalb von nur zwanzig Jahren steigt der Anteil dieser Ausflugsart von 1 auf 35 Prozent im Jahr 1935.


Das schlecht erschlossene Urner Meiental, geprägt von der Landwirtschaft, leidet in jener Zeit hingegen nach wie vor unter grosser Armut. Es gibt keine ausreichende Trinkwasserversorgung, geheizt und gekocht wird mit Holz. Kein Wunder, liebäugelt der Kanton Uri nach wie vor mit dem Bau einer Sustenstrasse für die Automobile und erhofft sich damit für die Gegend einen Aufschwung. Doch erst touristische, militärische und wirtschaftliche Interessen erwecken das Projekt in den 1930er-Jahren zu neuem Leben. Der Bund beschliesst, befeuert von der weltpolitischen Krise und dem Réduit-Plan, den (Aus-)Bau von Alpenstrassen zu subventionieren. Das ist die Chance für den Susten! Die Urner wie die Berner sagen mit einer überwältigenden Mehrheit ja zu einer neuen Auto-Route über den Pass – und wie in den Staatsarchiven heute nachzulesen ist, frohlockt die Presse damals: «Ein grosser Augenblick hat ein grosses und starkes Volk gefunden!»


Die Bauarbeiten beginnen am 15. September 1938. Von der Urner Seite her ist Kantonsingenieur Oberst Dominik Epp für die Linienführung verantwortlich, der die Route konsequent in den sonnigen, linken Talhang legt. Auf der Berner Seite achtet Dr. Walter Bösiger, der leitende Ingenieur, akribisch darauf, dass sich der Bau in die Bergwelt einfügt. 32 Millionen Franken wird das Werk am Schluss kosten, und die Bauzeit erhöht sich durch die Mobilmachung und den Zweiten Weltkrieg von den veranschlagten sechs auf acht Jahre. Zeitweise stehen 2000 Mann im Einsatz, viele von ihnen durch die vom Staat erlassene «Arbeitspflicht für den Sustenstrassenbau» gezwungen; Schweizer arbeiten Seite an Seite mit italienischen und polnischen Internierten. Je weiter die Arbeiten voranschreiten, desto mehr Barackendörfer entstehen der neuen Strasse entlang. Für die Gläubigen werden hier protestantische und katholische Gottesdienste organisiert, es gibt gesellige Unterhaltungsabende und Kinovorstellungen.


Fotos: Kulturförderverein Gadmen



Ein Pass für alle


Heute treffen am Susten drei aussergewöhnliche Verkehrswege aus drei Epochen aufeinander. Die Autostrasse hat nichts an Attraktivität eingebüsst und wird unter strengsten Auflagen unterhalten, so dass sie ihren Charakter behält. Der historisch belegbare Säumerweg ist noch weitgehend erhalten, und auch Teilstücke der Communicationsstrasse von 1811 dienen vor allem Bikerinnen und Wanderer als reizvolle Route, die sie fernab mitten durch die Berglandschaft führt. Sportveranstaltungen wie das Alpenbrevet führen über den Susten, und auch die Fahrer der Tour de Suisse kämpfen sich hier regelmässig hoch. Wer die Schönheit der Gegend lieber ganz entspannt geniessen möchte, nimmt das Postauto und lehnt sich zurück.





Quellenangaben

· Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz / IVS Dokumentation Kanton Bern

· «Verkehrswege in Uri – Der Sustenpass», Stefan Fryberg

· «Uri und das Automobil – des Teufels späte Rache?», Rolf Gisler-Jauch

· Richtplan Sustenpassstrasse BE (RPS), Kreisoberingenieur Markus Wyss, Architekt Uli Huber, ViaStoria und Kantonale Denkmalpflege

· «Historische Verkehrswege im Kanton Bern», Bundesamt für Strassen (ASTRA)

· «Die Strassengeschichte des Kantons Bern vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart», Erika Flückiger Strebel, Hans-Ulrich Schiedt, ViaStoria

· Beilage zum «Oberhasler» anlässlich der offiziellen Einweihung der neuen Sustenstrasse, 7. September 1946

· «Autobus- und Postautolinien der Schweiz – Zentralalpen-Pässe», Rolf Gast

· «Die alte Sustenstrasse», Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, Max Simmen



Dieses historische Dossier zum Sustenpass ist im Auftrag der Kraftwerke Oberhasli AG entstanden. Besten Dank für den schönen Auftrag!

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